Leseprobe

„Aber lass mich bitte nur bei diesem aufsteigenden weißen Tropfen bleiben, da wir bald an unserem Ziel angelangt sind. Das feminine Wirkprinzip will im günstigsten Fall bewahren und erhalten. Es ist ein Raumprinzip. Das heißt, auf den gesellschaftlichen Aspekt bezogen ist es kollektiv ausgerichtet. Es wirkt auch kristallisierend und damit konkretisierend. Es bewahrt und erhält, indem es die Dinge wandelt, also transformiert. Dadurch entsteht Dauer. Das ist nicht so widersprüchlich, wie sich das anhört. Nun aber zum Maskulinen Wirkprinzip, um das es mir jetzt hauptsächlich geht. Es will, auch das im günstigsten Fall, strukturieren und ordnend umsetzen. Es ist ein sehr dynamisches Prinzip, das ins Detail gehen möchte. Es zeigt Richtung an und ist progressiv.
Doch nun zurück zum Bild des Flusses. Stell dir einen Menschen vor, der sich zu einer starken, machtvollen Persönlichkeit, also zu einem breiten, schwerfällig fließenden, mächtigen Fluss entwickelt hat.“
Alexander fielen da sofort einige gesellschaftliche und politische Autoritäten ein.
„Er hat inzwischen Standfestigkeit und Durchsetzungsvermögen entwickelt und sich einen wichtigen Platz im Weltgeschehen erobert. Sein Ich-Bewusstsein ist auf seinem Höhepunkt. Menschen suchen ja jemanden, um den sie kreisen können. Er übt also eine starke Anziehungskraft aus und je mehr Energie ihm durch Aufmerksamkeit zugeführt wird, je machtvoller wird er. Stell dir einen kraftvollen Hirsch mit einem prächtigen Geweih vor. Dann weißt du, worauf ich hinaus möchte. Irgendwann aber kommt der Zeitpunkt, an dem sich dieses starke Ich-Bewusstsein vom Femininen Prinzip transformieren lassen sollte. Doch es wehrt sich mit all seiner Kraft. Denn es fürchtet sich aufzulösen, zu sterben, und tatsächlich würde es bei dieser Transformation auch einen kleinen Tod sterben. Aber es löst sich nicht auf. Es transformiert sich und findet dadurch zu einem neuen Standort innerhalb des großen Ganzen. Aber das will es eben nicht und strebt nun danach, sich ungehindert weiter auszubreiten, denn Leben heißt ja immer in Bewegung sein. Da es nicht mehr vorwärtskommt, was seinem Naturell entspräche, bläht es sich auf. Es bekämpft das Feminine wo es nur kann, will es überwinden, statt sich von ihm wandeln zu lassen. Dieser Mensch folgt ungebändigt seinem Drang nach Wachstum und Macht. Er lässt sich erhöhen oder versucht, sich ein Denkmal zu setzen. Er fordert Gehorsam ein, um sich seinen Platz zu sichern und verliert dabei immer mehr das Gemeinwohl aus den Augen. Wie von der Macht berauscht, entwickelt er sich zusehends zu einer narzisstischen oder paranoiden Persönlichkeit. Bedenke, dass es bei meiner Beschreibung um eine Person geht, die sich in einer einflussreichen Position befindet. Er gleicht, um bei unserem Bild zu bleiben, dem Imponiergehabe eines Hirsch­bockes mit seinem prächtigen Geweih, das er kaum tragen kann. Diese Last ist schwer und die Gefahr groß, dass er sich im Gestrüpp verfängt und sich mehr und mehr darin verstrickt. So einem Menschen mangelt es an fehlenden Vorsichtsmaßnahmen. Er hat das Aufkommende, die zarten Anfänge nicht erkannt.“